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Der Gänsegeier (Gyps fulvus)
Ich bin dankbar für alles, was ich in meinem Leben bereits erhalten habe.
Hochkonzentriert segle ich mit ausgebreiteten Flügeln durch die Lüfte. Mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,70 Metern gehöre ich zu den größten Vögeln der Welt – größer als die meisten Adler. Unter mir ziehen das Meer, karge Felsen, dichtes Gestrüpp, flache Bäume und Schafe dahin.
Mein Hunger treibt mich an, und ich bin auf der Suche nach Nahrung. Meine Augen und meine Nase scannen den Boden ständig auf der Suche nach einem Tierkadaver. Als Aasfresser erlege ich keine eigene Beute, sondern bin auf verendete Weide- oder Wildtiere angewiesen. Bis zu 8 Stunden täglich bin ich auf Nahrungssuche, und ich bin nicht allein. In Sichtweite segeln andere Gänsegeier meiner Kolonie mit mir. So können wir ein möglichst großes Gebiet abdecken.
Plötzlich steigt mir der Geruch von Verwesung in die Nase. Ich beginne zu kreisen, meine Augen immer auf den Boden gerichtet. Und da – ein totes Schaf. Meinen Artgenossen ist dies nicht entgangen, und sie folgen mir. Dann beginnt das große Fressen. Keine falsche Bescheidenheit am Buffet – wir verschlingen bis zu 20 % unseres Körpergewichts. Schließlich wissen wir nie, wann es die nächste Mahlzeit geben wird. Manchmal verschlinge ich so viel, dass ich wieder etwas auswürgen muss, um mich erneut in die Lüfte schwingen zu können.
Mein Name stammt nicht von einer besonderen Vorliebe für Gänse, sondern von meinem langen, dünnen Hals. Zwar sind meine Hals und Kopf nicht ganz nackt wie bei anderen Geiern, aber ich trage dort lediglich weiße Dunen (oder Daunen). Diese weichen Federn hindern mich nicht, meinen Kopf in Kadaver zu stecken. Sie lassen sich auch leichter reinigen – und glaubt mir, nach so einer Mahlzeit ist Reinigung dringend nötig.
Gänsegeier tragen die Botschaft eines friedvollen Miteinanders in unser Leben. Als Aasfresser ernähren sie sich ausschließlich von Tierkadavern, die sie nicht selbst getötet haben. Sie führen uns vor Augen, dass ein Leben in absoluter Freiheit und Fülle gelingt, ohne dabei anderen Lebewesen Schaden zuzufügen. Der Gänsegeier lehrt uns, jedem Lebewesen – auch uns selbst – mit Respekt, Güte und Fried-fertigkeit zu begegnen, weil dies das Leben aller bereichert.
Er erinnert uns zudem daran, dankbar zu sein für all das, was wir im Leben bereits erhalten haben, während andere noch danach suchen. Eine Mahlzeit, dicke Socken, ein warmes Zuhause, das Lächeln eines anderen Menschen, ein Sonnenstrahl. Denn, wie Francis Bacon sagte: „Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.“
Steckbrief Gänsegeier
Länge: 95-110 cm
Flügelspannweite: 230-270 cm
Lebensraum: Gebirge - benötigen steile Felswände zum Brüten; trockene und offene Gebiete zur Nahrungssuche
Brutplatz: Höhlen und Nischen an steilen Felswänden, Koloniebrüter (bis zu 100 Paare)
Nahrung: Aas (Tierkadaver): vorwiegend tote Weidetiere: Ziegen, Schafe, Rinder, etc.
In Deutschland kein Brutvogel, juvenile Gänsegeier verbringen regelmäßig den Sommer in den bayrischen Alpen; in Südeuropa zu beobachten (z.B. Iberischen Halbinsel, Südfrankreich, Länder des Balkans)
Bestand: Deutschland: ausgestorben (Rote Liste Deutschland), weltweit: nicht gefährdet (Rote Liste Weltnaturschutzunion, IUCN)
Systematik:
Ordnung: Greifvögel
Familie: Habichtartige
Gattung: Gyps
Art: Gänsegeier